Wie aus Versalien und Gemeinen eine harmonische Schrift wurde.
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Woher die Buchstaben kommen.
Betrachtet man das westeuropäische Alphabet des 21. Jahrhunderts, so hat man im Grunde genommen zwei verschiedene Alphabete vor sich, denn es handelt sich um eine Mischung zweier. Die Großbuchstaben entstammen den römischen Majuskeln, die Kleinbuchstaben den mittelalterlichen (karolingischen) Minuskeln.
Diese Mischung zweier Systeme ist der Grund, warum beide in den ersten Jahrhunderten wenig miteinander harmonierten. Das war aber auch nicht wichtig, denn die römischen Majuskeln – das was wir heute als Großbuchstaben bezeichnen – wurden dafür verwendet, wichtige Worte hervorzuheben. Namen beispielsweise, aber auch Substantive allgemein. Daraus haben sich später die Regeln der Groß- und Kleinschreibung entwickelt, wie wir sie heute kennen.
Das deutliche Hervorheben »besonderer« Worte hat sich über viele Jahre der Anwendung abgeschwächt und relativiert, bedenkt man nur wie viele Worte heute groß geschrieben werden. Die deutsche Rechtschreibung gehört zu den Anführern, was Großbuchstaben betrifft und ist damit auch eine komplexere.
Über viele Jahre kam es schließlich zu einer Abnutzung dieses kontrastreichen Unterschieds der Buchstaben und damit zu einer Angleichung der verschiedenen Systeme. Dazu muss natürlich angemerkt werden, dass je nach Schriftart und Gestaltungswillen des Schriftschöpfers zu jeder Zeit Schriften mit verschiedenen Proportionen entstehen können. Gemeint ist hier aber der Zeitgeist, der dazu veranlasst, im 21. Jahrhundert allgemein Schriften mit eher kleineren Versalien zu schaffen als früher.
Inzwischen gibt es sogar experimentelle Schriften, die sich um eine Vermischung von Versalien und Gemeinen bemüht haben, in dem beide Schriftsysteme die gleiche Höhe erhalten haben. Beispiel hierfür ist die Disturbance, welche lediglich einige Ober- und Unterlängen aufweist.
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Was bedeutet diese Entwicklung für Gestalter?
Alte und neue Schriftproportionen
Bei älteren Schriften ist zu sehen, dass sich Versalen (Großbuchstaben) und Gemeine (Kleinbuchstaben) in ihren Proportionen deutlich voneinander unterscheiden. Dazu kommt, dass Gemeine oft etwas dünner geschnitten wurden. Dies ist darin begründet, dass die kleineren Buchstaben im klassischen Buchdruck schwärzer wurden als die größeren und damit fetter wirkten. Man versuchte diese Wirkung damit auszugleichen, dass man die kleinen Buchstaben etwas dünner schnitt.
Bei neueren Schriften hingegen ist zu beobachten, dass sich Versalen und Gemeine deutlich angenähert haben. Beide weisen nun gleiche Strichstärken auf und haben harmonische Proportionen, sodass Versalien und Gemeine gut zueinander passen. Oft überragen Gemeine in ihrer Oberlänge die Höhe der Versalien, was zu einer optischen Gleichmäßigkeit der Buchstaben führt. Das Satzbild wirkt geschlossener und harmonischer.
Typografie für Profis
Gute Setzer hatten früher Versalsatz leicht gesperrt und verkleinert (letzteres ist erst seit dem Desktop-Publishing möglich), um sie besser in den Satz und dessen Grauwirkung anzugleichen. Dies ist nun bei neueren Schriften mit modernen Proportionen nicht mehr nötig.
Wir können daher diese alte Regel fallen lassen, so lange wir mit Schriftarten arbeiten, die zeitgenössische Proportionen aufweisen, denn sie gilt nur für ältere Schriftarten. Typografie wird also einfacher und schöner zugleich. Und das ist gut so.
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Eine weitere Möglichkeit zur Schriftklassifikation.
Es gibt nun bereits einige verschiedene Systeme, um Schriften zu klassifizieren. Am bekanntesten ist wohl die Klassifikation nach DIN 16518, welche von einer westeuropäischen Betrachtung ausgehend 11 verschiedene Gruppen aufzeigt. Eventuell etwas weniger bekannt ist die Schriftklassifikation nach Indra Kupferschmid, welche nach den geometrischen Formen verursacht durch das Schreibwerkzeug und den daraus resultierenden Kontrasten in den Strichstärken geht.
Klassifikation nach Proportion
Eine weitere Möglichkeit Schriften zu klassifizieren, wäre nun, nach Proportionen der Oberlänge und Mittellänge zu unterscheiden. Demnach könnte eine Schrift mit klassischen Proportionen wie die bereits genannte Times zu einer Gruppe »Klassische Proportionen: Oberlänge größer als 140 % der Mittellänge« gehören, eine Schrift mit moderneren Proportionen wie die National zu einer Gruppe »Moderne Proportionen: Oberlänge kleiner als 140 % der Mittellänge«.
Diese Klassifikation hilft natürlich wenig, die unzählbaren Bestände vorhandener Schriften zu gliedern und übersichtlich zu ordnen. Es könnte aber helfen, zu entscheiden, welche Schrift für moderne zeitgemäße Gestaltung gewählt werden kann und welche Schrift für Satz, der eher klassisch erscheinen soll.
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